Rabbiner Janusz Pawelczyk-Kissin
Rede zum Pogromnachgedenken 2014 in Rohrbach 

Die Juden in Deutschland haben praktisch die gesamte wechselvolle Geschichte dieses Landes miterlebt und, passiv und aktiv, mitgestaltet. Als eine ethnisch-religiöse Minderheit befanden sich die Juden jahrhundertelang in einem Zustand weitgehender rechtlicher Abhängigkeit, hauptsächlich von den jeweiligen Landesherren. So ist die Geschichte der Juden in Deutschland über weite Strecken eine Geschichte von Ausgrenzung und Verfolgung. Auch die Emanzipation im 19. Jahrhundert war nicht sofort und nicht überall im gleichen Maß eine Erfolgsgeschichte. Die Integration der gleichberechtigten jüdischen Bürger in die allgemeine bürgerliche Gesellschaft verlief unterschiedlich: Von einer Partizipation am gesellschaftlichen Leben bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen Identität und Religion bis hin zur vollständigen Aufgabe der Eigenart. Doch wie auch immer diese Integration sich vollzogen hatte – die deutschen Juden waren patriotisch, kämpften im 1. Weltkrieg an der Front, 12 000 von ihnen sind gefallen; viele trugen bei zum wissenschaftlichen Fortschritt sowie zu gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen in ihrer Heimat. Allerdings erfuhr in jener Zeit auch die Judenfeindschaft eine Entwicklung: Die Wandlung von einer religiös motivierten Feindschaft und Ablehnung zum modernen säkularen Antisemitismus. Der neue Antisemitismus war in ganz Europa präsent, in allen möglichen Variationen. Wozu er in Deutschland dann geführt hat ist der Grund dafür, daß wir jetzt hier stehen. Die Novemberpogrome des Jahres 1938, bei denen Hunderte Juden ermordet oder in den Tod getrieben, 1400 Synagogen und Bethäuser, sowie tausende jüdische Geschäfte und Privatwohnungen zerstört und niedergebrannt wurden, waren ein vorläufiger Höhepunkt der Judendiskriminierung im nationalsozialistischen Deutschland, der den Übergang von Diskriminierung und gesellschaftlicher Ächtung  zur gewalttätigen Verfolgung und Vernichtung markierte. Auch die Rohrbacher Juden waren, wie wir bereits gehört haben, davon betroffen.

Der deutsch-jüdische Philosoph Hermann Cohen, der Begründer der „Marburger Schule“, sagte sinngemäß, eine Majorität würde in ihrer Mitte eine Minorität wie etwa die jüdische bergen, um zu lernen, Mitgefühl zu üben und den Nebenmenschen als Mitmenschen anzuerkennen. Eingetreten ist das genaue Gegenteil. Letztlich wurde der Großteil der in Europa lebenden jüdischen Minorität vernichtet – ein beispielloser Akt perfekt organisierter Bestialität.

Nach der großen Katastrophe hat sich der Schwerpunkt des Judentums geographisch vor allem in die USA und nach Israel verlagert. Das europäische Judentum war größtenteils vernichtet, und die meisten Überlebenden kehrten nicht zurück, auch nach Deutschland nicht. So haben wir es auch im heutigen Deutschland und in ganz Europa mit einer recht kleinen jüdischen Minderheit zu tun.

In diesem kurzen Abriss – noch kürzer und allgemeiner ging es wirklich nicht – der Geschichte der Juden in Deutschland wollte ich vor allem darauf hinweisen, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass das Judentum zu Deutschland gehört. Ebenso gehört aber auch die Judenfeindschaft in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen zu Deutschland und Europa.

Die kleine jüdische Minderheit - weniger als eine halbe Million in Frankreich, weniger als 300 000 in Großbritannien, ca. 120 000 in Deutschland, etwas über eine Million in der ganzen EU - hat es hier, auch sieben Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkriegs, nicht immer leicht. Der Antisemitismus existiert nach wie vor: Es gibt ihn nicht nur in seiner rechtsextremistischen Form, sondern etwa auch in einer linksliberalen; als „Antizionismus“ oder als sogenannte „Israelkritik“. Er äußert sich nicht immer nur verbal, sondern tritt zuweilen auch als physische Gewalt in Erscheinung.

Weshalb erwähne ich das alles hier, im Rahmen unserer gemeinsamen Gedenkveranstaltung?

Die Erinnerung an die furchtbare Vergangenheit und das Gedenken an die Opfer von damals sind von großer Wichtigkeit für die Gestaltung unserer gemeinsamen Gegenwart. Diese Aussage ist meines Erachtens trotz ihrer inflationären Verwendung alles andere als banal. Es geht nicht um Vergangenheitsbewältigung – ein seltsames Wort – da die Vergangenheit unveränderlich ist und somit nicht bewältigt werden kann. Es geht vielmehr darum, und das ist alles andere als einfach zu bewerkstelligen, daß die heutigen Generationen, die keinerlei Schuld trifft, aus dem Wissen um die schreckliche Vergangenheit Orientierung und Kraft schöpfen für die Gestaltung einer Gesellschaft, in der, im Sinne von Hermann Cohen, die Mehrheitsgesellschaft in ihrer Mitte Minderheiten birgt, um zu lernen, Mitgefühl zu üben und den Nebenmenschen als Mitmenschen anzuerkennen.